Gesunder Menschenverstand versus magische Weltanschauung

Teil II

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Read Part I:

Wissenschaftliche Psychologie fordert neue „Aufklärung“

By Dr. Rudolf Hänsel, May 24, 2022


Die kritischen Gedanken über die Religion und ihre Auswirkungen auf das menschliche Fühlen, Denken und Handeln beruhen vor allem auf eigenen Erfahrungen des Autors mit dem religiösen Glauben und der Institution der katholischen Kirche. Darüber hinaus stützt sich der Autor als Pädagoge und Psychologe auf die Wissenschaft der Psychologie und das einzigartige Lebenswerk seines geschätzten Züricher Psychologie-Lehrers und Psychotherapeuten Friedrich Liebling (1893-1982). Von ihm stehen dem Autor unveröffentlichte Manuskripte und umfangreiche persönliche Aufzeichnungen von privaten und öffentlichen Gesprächen zur Verfügung.

Eine weitere Grundlage sind die Werke des französischen Aufklärers und Enzyklopädisten Baron Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723-1789) „System der Natur“ (5) und „Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier“ (6). Hinzu kommen die Gedanken des französischen Radikalaufklärers und „Atheisten im Priesterrock“ Jean Meslier (1664-1729), die er in seinem Testament „Memorandum der Gedanken und Überzeugungen des J. M“ niedergeschrieben hat.

Holbachs Buch „System der Natur oder von den Grenzen der physischen und der moralischen Welt“ erschien im Jahre 1770 unter fingierter Autorenschaft und erregte skandalöses Aufsehen. Der französische Klerus verlangte sein sofortiges Verbot durch das Parlament, weil es „gottlos, gotteslästerlich und aufrührerisch“ sei. Auszüge aus dem Vorwort des Verfassers lassen dies erahnen:

„Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt. Sein Geist ist durch Vorurteile derart verseucht, dass man glauben könnte, er sei für immer zum Irrtum verdammt: er ist mit dem Schleier der Anschauungen, den man von Kindheit an über ihn breitet, so fest verwachsen, dass er nur mit der größten Mühe daraus gelöst werden kann. Ein gefährlicher Gärstoff ist all seinen Kenntnissen beigemischt und macht sie notwendig schwankend, unklar und falsch; er wollte zu seinem Unglück die Grenzen seiner Sphäre überschreiten und versuchte, sich über die sichtbare Welt zu erheben; (…)

Es gibt nur eine Wahrheit; sie ist für den Menschen notwendig, sie kann ihm niemals schaden, ihre unbesiegbare Macht wird sich früher oder später offenbaren. Darum muss sie dem menschlichen Geschlecht enthüllt werden; (…)

Versuchen wir also, die Nebel zu verscheuchen, die den Menschen daran hindern, mit sicherem Schritt auf seinem Lebensweg voranzuschreiten, flößen wir ihm Mut und Achtung vor seiner Vernunft ein; er lerne sein Wesen und seine legitimen Rechte erkennen, er frage die Erfahrung um Rat und verzichte auf die Vorurteile seiner Kindheit; er gründe seine Moral auf seine Natur, seine Bedürfnisse, seine wirklichen Vorteile, welche die Gesellschaft ihm gewährt; er wage es, sich selbst zu lieben; er arbeite für sein eigenes Glück, indem er dasjenige der anderen fördert; mit einem Wort: er sei vernünftig und tugendhaft, um hier auf dieser Erde glücklich zu sein, und beschäftige sich nicht mit gefährlichen und unnützen Träumereien!“ (7)

1772, gerade einmal zwei Jahre nach Veröffentlichung von „System der Natur“, erschien unter dem Titel „LE BONS SENS DU CURE MESLIER“ das Buch „Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier“ (8). Um sich der Verfolgung durch die „heilige Inquisition“ zu entziehen, veröffentlichte Holbach seine Gedanken unter dem Namen des bereits verstorbenen freidenkenden Pfarrers Jean Meslier.

Meslier, der es in seiner Amtszeit nicht wagen durfte, der Kirchengemeinde seine kritischen Gedanken mitzuteilen, schrieb diese während seiner letzten Jahre nieder. Dieses umfassende, antireligiöse Manifest „Mémoire“ wurde nach seinem Tod 1729 als Testament veröffentlicht und übte einen erheblichen Einfluss auf die beginnende Aufklärung aus. Das Gedankengut Meliers wurde in vielen Auszügen verbreitet und galt als Bestseller unter den geheimen Schriften. 1792 nahm auch Voltaire dazu Stellung.

1878 erschien eine deutsche Übersetzung von „LE BONS SENS DU CURE MESLIER“: „Der gesunde Menschenverstand oder das religiöse Testament des Pfarrers Meslier aus Étrépigny. Eine religiös-philosophische Abhandlung über den Begriff ‚Religion‘ und über die Existenz eines göttlichen schöpferischen Wesens – Dem geistig fortgeschrittenen Volke gewidmet -“ (9). Orthographie, Interpunktion und Satzstellung wurden unverändert übernommen.

Bereits in der Einleitung schreibt Holbach:

„Es ist vergebene Mühe, die Menschen von ihren Lastern heilen zu wollen, wenn man nicht mit der Heilung ihrer Vorurtheile beginnt. Man muss ihnen die Wahrheit sagen, damit sie ihre theuersten Interessen kennen lernen, und die wahren Motive, welche sie der Tugend und ihrem wahren Glück zuführen.

Die Volkslehrer haben lange genug ihre Augen zu dem Himmel erhoben; möchten sie endlich sie der Erde zuwenden! Gebeugt durch die unbegreifliche Theologie, durch lächerliche Fabeln, durch undurchdringliche Mysterien, durch kindliche Ceremonien, möchte der Mensch doch endlich sich mit natürlichen Dingen, mit verständlichen Gegenständen, mit sichtbaren Wahrheiten, mit nützlichen Kenntnissen befassen! Man beseitige die eitlen Chimären, welche die Menschen in Fesseln halten; und die vernünftigen Gedanken werden gleichsam von selbst in den Köpfen Wurzeln fassen, von denen man glaubte, sie seien für ewigen Irrthum bestimmt. (…)

Um die wahren Prinzipien der Moral zu entdecken, bedarf der Mensch weder der Theologie, noch einer Offenbarung, noch eines Gottes; er bedarf nur eines gesunden Verstandes; er braucht nur in sich selbst zu blicken, seine eigene Natur zu erforschen, seine Vortheile zu berücksichtigen, den Zweck der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder zu betrachten, und er wird leicht zur Einsicht kommen, dass die Tugend glücklich und das Laster unglücklich macht.

Sagen wir den Menschen, dass sie gerecht sein sollen, wohltätig, mäßig und gesellig, nicht weil es ihre Götter verlangen, sondern weil man seinen Nebenmenschen zu gefallen suchen muss; sagen wir ihnen, dass sie sich der Sünde und des Lasters enthalten sollen, nicht weil man in einer andern Welt gestraft wird, sondern weil sich das Böse schon in diesem Leben bestraft. (…).

Die Wahrheit ist einfach; der Irrthum ist compliziert, unsicher in seinem Gange und von Abwegen umgeben. Die Stimme der Natur ist verständlich; die der Lüge ist zweideutig, rätselhaft, mysteriös. Der Weg der Wahrheit ist gerade, jener des Betruges ist krumm und finster. Diese Wahrheit ist allen Menschen nothwendig, und wird von allen Gerechten gefühlt. Die Lehren der Vernunft sind für alle Jene, die redlichen Gemüthes sind. Die Menschen sind unglücklich, weil sie unwissend sind; sie sind unwissend, weil sich Alles gegen ihre Aufklärung verschwört, und bloß darum schlecht, weil ihre Denkkräfte nicht hinreichend entwickelt.“ (10)

Der französische Philosoph und Schriftsteller Pierre Bayle (1647-1706), ebenfalls eine zentrale Figur der Aufklärung, ist der Auffassung:

„Dass eine Meinung nur deshalb, weil sie sich von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgeschleppt hat, nun eine Wahrheit sei, das ist ganz einfach eine Täuschung.“ (11)

Hohe „Suggestibilität“ im Kindesalter unterstützt religiöse Glaubensbereitschaft

Die christliche Kirche ist der Überzeugung, dass das, was an religiöser Erziehung des Kindes versäumt wird, kaum wieder eingeholt werden kann. Sie muss ihre Lehren dem jungen, geistig noch hilflosen Menschen erst künstlich induzieren, um ihn als Erwachsenen fest in der Hand zu haben.

Der Mensch glaubt gerne, was seinen Wünschen und seiner jeweiligen Gemütsstimmung entspricht. Die „Suggestibilität“ ist ein Persönlichkeitsmerkmal, welches das Ausmaß der „Empfänglichkeit“ für suggestiv übermittelte Informationen über bestimmte Sachverhalte ausdrückt, die in die eigenen kognitiven Systeme (Wahrnehmen, Denken, Erinnern usw.) integriert werden. Oft vermitteln Menschen diese Informationen als Selbsterlebtes oder eigene Erfahrungen weiter. Bei diesem Prozess werden von außerhalb Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen oder Vorstellungen übernommen, die nicht der Realität entsprechen und die Person in manipulativer Weise geistig-psychisch beeinflussen sollen (12).

Durch die mehr oder weniger große Suggestibilität fast aller Menschen wird die religiöse Glaubensbereitschaft wesentlich unterstützt. Sehr suggestible Erwachsene werden oft als „naiv“ oder „leichtgläubig“ bezeichnet. Anders verhält es sich bei Kindern: Ihre Suggestibilität ist sehr hoch, weshalb junge Menschen in besonderem Maße Ziel manipulativer Beeinflussung sind. Außerdem können Kinder dazu neigen, suggerierte Informationen mit Erlebtem zu verwechseln (13). Bevor noch das Bewusstsein erwacht und bevor es denken und bewerten kann, werden dem Kind die Ideen von Gott, Teufel, Dämonen, finsterer Mächte und der Hölle eingeflößt. Allein der Gedanke, an diesen Ideen zu zweifeln, führt direkt in die Hölle.

In der Regel betritt der gläubige Mensch seine Kirche bereits in einem halbsuggerierten Zustand; weiteres geschieht automatisch: Das feierliche kirchliche Milieu, die priesterliche Kleidung, Weihrauch, Orgelmusik, Litaneien und die Predigt, die pathetisch überreden will. All das vervollständigt die Suggestion und schaltet das kritische Denkvermögen aus. Das Denken wird leise und unbemerkbar beiseitegeschoben und durch die Stimme des Predigers eingelullt. Zum hundertsten und tausendsten Mal wird immer das gleiche gesagt, man hört kaum noch zu.

Durch die religiöse Suggestion wird nicht nur die Intelligenz eingeschüchtert, sondern auch der Wille und das Selbstbewusstsein, weil der Abfall vom Glauben und der Austritt aus der Kirche seit apostolischen Zeiten als schwere Sünde, als Untreue und Judas-Tat gelten. Der gesunde und geistig-psychisch nicht manipulierte Mensch äußert Urteile erst dann, wenn er sie an der Erfahrung überprüft und als nicht vernunftwidrig erkannt hat.

Die einschläfernde Wirkung der monotonen religiösen Zeremonien und die religiösen Feste, die den Höhepunkt des Jahres darstellen sowie die ständige Entwertung einer vorübergehenden Existenz auf Erden zugunsten des ewigen Lebens im Jenseits bewirken, dass eine fatalistische und passive Haltung häufig zum dominanten Charaktermerkmal der Persönlichkeit wird.

Ein Mensch kann sich aber in seiner Denkungsart und Gedankenwelt ändern. Die Jugend ist heute freier als früher; das ist schon eine andere Welt, weil die Zivilisation fortgeschritten ist. Dieser junge Mensch ist mit der Religion aufgewachsen, er kennt das ganze mystische Gedankengut und hat immer noch Angst, nicht zu glauben, weil das eine Sünde ist und er das ewige Leben verlieren könnte.

Wenn er jedoch zum Beispiel zu einem aufgeklärten Psychotherapeuten Vertrauen hat und bekommt Mut, steht nach einiger Zeit ein Mensch vor uns, der das alles ablegen kann: Er glaubt nicht mehr, weil er Einblick in die Naturwissenschaft bekommen hat, weil er angefangen hat zu lesen und weil er die Kirchengeschichte und die Geschichte der anderen Seite, der Zweifler, kennengelernt hat, die sich gegen die Religion aufgelehnt haben. Er fängt an, einen Blick für die reale Welt zu haben und bekommt neue Gedanken; an die alten glaubt er nicht mehr. Er hat eine andere Lebensauffassung, weil er seine Gedanken und Gefühle überprüft hat.

Das Problem der Gewalt in der autoritären Erziehung

In unserer Gesellschaft und Kultur wird immer mit Gewalt vorgegangen. Bei der Mutter fängt es an. Wie kommt es, dass eine Mutter ihr Kind schlägt, beschimpft und irritiert? Das ist doch nicht gewollt: Sie hat ein Kind auf die Welt gebracht und war mit dem ganzen Herzen dabei. Beziehen wir jedoch unsere gesamte Gesellschaftsordnung mit ein – das Prinzip der Gewalt und des Zwanges –, dann ist die Mutter schon so erzogen worden und ist der Meinung, dass sie ihr Kind auch in diesem Sinne zu erziehen hat.

Ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung – die Intelligenten, die Dummen, die Akademiker, die Nichtakademiker, die Gläubigen und die Ungläubigen –, sie alle stimmen für „Ruhe und Ordnung!“. Das ist der Kasernenhof, unser kulturelles Problem und unser Unglück! Da liegt „der Hund begraben“. Wir haben alle den Zwang in der Erziehung erlebt – und deshalb haben wir den Zwang in uns.

Auch die Schule ist eine Gewaltinstitution – selbst dann, wenn sie heute wegen der psychologischen Erkenntnisse etwas gemildert ist. Der Lehrer darf nicht mehr schlagen – aber er schlägt trotzdem. Die ganze Haltung des Lehrers ist autoritär, auch wenn er nicht schlägt. Das Kind wird seines Lebens nicht froh. Es lebt nicht in einer freundlichen Welt; alles ist die Fortsetzung des Erziehungsproblems zuhause.

Der Professor ist ebenso ein Machthaber, dem der Student nicht gewachsen ist. Dieser Autoritätsgedanke wird überall gepflegt. Lehrer und Professor haben Angst, ihr Prestige zu verlieren, wenn sie sich mit dem Schüler oder Studenten unterhalten und ihm helfen. Sie haben Angst, weil auch sie diese Erziehung erlebt haben. Es ist kein gutes, gleichwertiges Verhältnis.

In der autoritären Erziehung führen wir das Kind nicht behutsam und behandeln es nicht wie ein Wesen, das werden soll, das sich entwickelt. Wir verlangen sehr viel und werden schnell nervös. Vater und Mutter kommen eben vom Schmelzkessel der Kirche und der Mystik. Unsere Moral und Meinung sind durchzogen vom Gedanken der Religion.

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Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor a. D.), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Schwerpunkte: Klinische-, Pädagogische- und Medien-Psychologie). Als Pensionär arbeitete er viele Jahre als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung und eine Erziehung zum Gemeinsinn und Frieden.

Noten

(5) D’Holbach, Paul Thiry (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main

(6) D’Holbach, Paul-Henri Thiry (1878). Der gesunde Menschenverstand oder das religiöse Testament des Pfarrers Meslier aus Étrépigny. St. Gallen

(7) D’Holbach, Paul Thiry (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, S. 11 f.

(8) D’Holbach, Paul-Henri Thiry (1878). Der gesunde Menschenverstand oder das religiöse Testament des Pfarrers Meslier aus Étrépigny. St. Gallen

(9) D’Holbach, Paul-Henri Thiry (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Zürich

(10) A. a. O., S. 4 ff.

(11) Hagen, Friedrich (1977). Jean Meslier oder ein Atheist im Priesterrock. Leverkusen und Köln, S. 36

(12) https://de.wikipedia.org./wiki/Suggestibilität

(13) A. a. O.


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