Die G7 spielt thermonukleares Schach mit Putin

Das wichtigste Ergebnis des jüngsten G8 Gipfels in Heiligendamm war nicht der „Sieg“ von Kanzlerin Merkel in der strittigen Frage der Emissionen von Treibhausgasen. Es war das ausgeklügelte Schachspiel von Rußlands Präsidenten Vladimir Putin um die Raketenabwehrstrategie der USA in Europa.

Putin spielte seinen amerikanischen Amtskollegen Bush aus, als er einen neuen Vorschlag auf den Tisch legte, um auf Washingtons Scheinargumente einzugehen, warum  sein ballistisches Raketenabwehrsystem in Polen, der Tschechischen Republik und vielleicht auch in der Ukraine und Bulgarien eingerichtet werden muß. Der Vorschlag war so einfach wie vernichtend für die US-Argumentation für Raketenabwehrstellungen in Tschechien und Polen.

Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz im Anschluß an ihre privaten Gespräche erklärte Putin: „Wir haben unsere eigenen Vorstellungen. Ich habe sie detailliert dargelegt. Der erste Vorschlag beinhaltet die gemeinsame Nutzung der Radarstation Gabala, die Rußland von Aserbaidschan geleast hatt.  Ich sprach erst gestern mit dem aserbaidschanischen Präsidenten über dieses Thema. Unsere gegenwärtige Übereinkunft mit Aserbaidschan erlaubte es uns, so zu verfahren, und der Präsident Aserbaidschans betonte, er wäre glücklich,  wenn sein Land auf diese Weise dazu beitragen könnte, die globale Sicherheit zu gewährleisten.

„Wir können dies automatisch tun“, fügte Putin hinzu, „und in diesem Falle schlösse das System, das wir eingerichtet haben, ganz Europa ohne Ausnahme ein, anstatt nur einen Teil des Kontinents. Dies würde die Möglichkeit, daß Raketen über europäischen Ländern niedergehen, vollständig beseitigen, denn sie stürzten entweder ins (Schwarze) Meer oder in den Ozean. Dies beseitigte auch die Notwendigkeit – oder genauer gesagt, es erlaubte es uns, davon Abstand zu nehmen, unsere Position zu ändern und unsere Raketen auf neue Ziele zu richten …“

Antworten der USA

 

Nach dieser Pressekonferenz gab der Sprecher von Bush bekannt, der Präsident sei erkrankt. Wahrscheinlicher ist, daß Herr Bush schleunigst instruiert werden mußte, wie auf die unerwartete russische Offerte zu antworten sei. Condi Rice gab sogar zu, man sei von dem Vorschlag vollständig überrascht worden. Der russische Präsident hatte ihren Bluff vor der Weltpresse  offenbar gemacht.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am 15. Juni erklärte General Henry Obering, Chef der US Behörde für Raketenabwehr, der russische Vorschlag nütze nichts gegen die „iranische Bedrohung“, und die Einrichtung eines US Radarsystems in  der Tschechischen Republik und einer Raketenbasis (!) in Polen sei „die bestmögliche Entscheidung angesichts von Untersuchungen über mögliche Flugbahnen von Langstreckenraketen, an denen die islamische Republik arbeitete …“

Einen Tag zuvor erklärte US Verteidigungsminister Gates auf einem Treffen von NATO-Verteidigungsministern, die USA würden mit ihren Plänen für ein Raketenabwehrsystem in in Osteuropa fortfahren, ungeachtet ob eine Einigung über den russischen Alternativvorschlag erreicht werde oder nicht.

Kurz gesagt war Washingtons Antwort eine Parodie auf den berühmten Ausruf von Admiral Farragut: „Zum Teufel mit den Raketen – Volle Kraft voraus!“ *

Die Vereinigten Staaten fragten im Januar formell an, um  eine Radarstation in einem Militärgebiet in der Nähe von Prag und Abfangraketen im benachbarten Polen als Teil eines von den USA kontrollierten Raketenabwehrsystems zu installieren. Wir sollten uns daran erinnern, daß sich Washington zur Rechtfertigung auf Raketenangriffe aus Schurkenstaaten wie Iran oder Nordkorea berief.

Gut möglich, daß die Welt Heiligendamm im Rückblick als letzte Chance der Großmächte sieht, thermonukleare Zerstörung zu vermeiden. Das klingt übertrieben dramatisch? Am Tag nachdem er Herrn Bush seine Vorschläge unterbreitet hatte, berief Putin eine offene Pressekonferenz für die gesamte beim G8 Gipfel anwesende Presse ein.

 

 

Warum Putin Recht hat

 

Der westliche Leser der etablierten Presse würde schließen, daß sich Rußland einseitig dazu entschlossen hat, zu seinen Positionen aus dem Kalten Krieg zurückzukehren und den Weltfrieden bedroht. Die Wirklichkeit sieht ein wenig anders aus. Wie Putin der Presse auf dem Gipfel in verschiedenen Aussagen mitteilte, die in der westlichen Presse fast vollkommen ausgeblendet wurden, wird „dieses Raketenabwehrsystem, wenn es aufgestellt ist, automatisch gemeinsam mit der gesamten nuklearen Kapazität funktionieren.Es wird integraler Bestandteil der nuklearen Kapazität der USA sein.“

Mit anderen Worten, die Raketen“abwehr“ ist gar keine Abwehr. Sie ist offensiv. Wenn eine von zwei Nuklearmächten die Fähigkeit zum Erstschlag und dazu noch einen bescheidenen Schutz vor der Vergeltung des anderen hat, dann hat sie erreicht, wovon NATO Strategen seit der Mitte der 50er Jahre träumen: nukleare Überlegenheit. Man kann dem anderen schlicht die Bedingungen diktieren, denen er sich zu fügen hat. Die erste Nation mit einem Raketenabwehrschirm hätte de facto die Kapazität zum Erstschlag. So bezeichnete auch der Direktor des Raketenabwehrprogramms der US-Luftwaffe, Oberstleutnant Robert Bowman Raketenabwehr kürzlich recht zutreffend als das „fehlende Glied zum Erstschlag.“

Das Argument der iranischen Raketen können wir verwerfen. Das Angebot Putins für den US Raketenschutzschild stünde an der iranischen Grenze. Die gegenwärtigen Pläne der USA für Europa rufen den Bericht vom September 2000 ins Gedächtnis, der zusätzlich zu einem Regimewechsel im Iran auch nach einer verstärktem Vorrang für Raketenabwehr verlangte, um „der Macht der USA Nachdruck zu verleihen.“ Dieser Bericht, „Rebuilding America‘s Defenses“ verfaßt vom aggressiven Project for the New American Century, in dem Dick Cheney und Don Rumsfeld Mitglieder waren, erklärt, daß „die Vereinigten Staaten einbe globale Raketenabwehr entwickeln und installieren müssen, um das amerikanische Heimatland und die amerikanischen Aliierten zu verteidigen, und um eine sichere Basis für die Beförderung amerikanischer Macht in aller Welt zu gewährleisten.“ (Hervorhebung vom Autor)

In seinen Bemerkungen in Heiligendamm erinnerte Putin die Presse daran, daß es nicht Rußland sondern die USA seien, die die neue Konfrontation starteten, als sie im Dezember 2001 einseitig den amerikanisch-russischen Vertrag über Antiballistische Raketen kündigten. Seitdem hat Washington farbige Revolutionen und Regimewechsel im Interesse der NATO an Rußlands Grenzen unterstützt. Es hat Polen in die NATO geholt, und auch Lettland, die Tschechische Republik, Estland, Litauen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, die Slovakei und Slowenien, die früher zu Jugoslawien gehörten. Weitere NATO-Anwärter sind Georgien, Kroatien, Albanien und Mazedonien.  Der Präsident der Ukraine, Viktor Juschenko hat versucht, die Ukraine in die NATO zu bringen. Dies ist eine klare Botschaft an Moskau, und es ist nicht überraschend, daß man sie dort nicht allzu wohlwollend aufnimmt.

Putin bemerkte mit mehr als nur ein wenig Ironie: „Wir haben all unsere schweren Waffen aus dem europäischen Teil Rußlands hinter den Ural zurückgezogen. Wir haben unsere Streitkräfte um 300.000 Mann reduziert. Wir haben verschiedene andere Schritte unternommen, die der ACAF (Adapted Conventional Armed Forces Treaty in Europe) verlangt. Aber was haben wir als Antwort gesehen ? Osteuropa erhält neue Waffen, zwei neue Militärbasen werden in Rumänien und in Bulgarien errichtet, und es gibt zwei neue Gebiete für den Abschuß von Raketen – ein Radarsystem in der Tschechischen Republik und Raketensysteme in Polen. Und wir stellen uns die Frage: Was geschieht hier? Rußland rüstet einseitig ab. Aber wenn wir einseitig abrüsten, sähen wir gerne, daß unsere Partner Willens sind, dasselbe in Europa zu tun. Statt dessen wird Europa mit neuen Waffensystemen vollgestopft.“

Es ist jetzt wahrscheinlich, daß sich Rußland aus dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte aus dem Jahr 1990 verabschieden und seine militärische Organisation neu ausrichten wird. Es wird seine Raketen wieder auf Ziele in der EU und den USA richten. Am 14. Juni verkündete Moskau erfolgreiche Tests eines neuen Typs von ballistischen Raketen die Berichten zufolge in der Lage sein werden, jede amerikanische Raketenabwehr zu durchbrechen. Der neue Kalte Krieg ist auf dem besten Wege. Wie dies die Beziehungen zwischen der EU und Rußland, auch unter Einbeziehung von Öl und Gas beeinflussen wird, wird das politische Hauptthema für den Rest dieser Dekade sein.

Übersetzt von Hergen Matussik und überprüft von Fausto Giudice, Mitgliedern von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt.


Articles by: F. William Engdahl

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