Den Menschen zur Natur zurückführen. Paul Thiry d’Holbach
Die Menschen müssen die Wahrheit erfahren
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„Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt. Sein Geist ist durch Vorurteile derart verseucht, dass man glauben könnte, er sei für immer zum Irrtum verdammt: er ist mit dem Schleier der Anschauungen, den man von Kindheit an über ihn breitet, so fest verwachsen, dass er nur mit der größten Mühe daraus gelöst werden kann.“(1)
Dies schrieb vor rund 250 Jahren der französische Aufklärer und Enzyklopädist Baron Paul-Henry Thiry d’Holbach im Vorwort seines vom französischen Klerus als „gotteslästerlich und aufrührerisch“ diskreditieren Buches „System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt“. Am Vorabend der Französischen Revolution im Jahre 1789 starb d‘Holbach.
Lebten die Menschen im Mittelalter noch in einer magischen Welt, in der die Naturvorgänge scheinbar übernatürlichen Gewalten unterworfen waren, so hat sich mit Anbruch der Neuzeit im europäischen Leben und Denken eine entscheidende Wandlung angebahnt: Die Menschen besannen sich auf sich selbst und begannen, ihre Stellung im Weltganzen zu erkennen und zu gestalten. Die Autorität der Bibel – bis anhin die einzige Quelle der Weisheit – trat mehr und mehr in den Hintergrund und die Forscher begannen, die Natur selber zu befragen, im großen Buche der Natur zu lesen.
Zunächst waren es kühne Einzelne, die der Forschung den Weg bahnten und die Selbständigkeit ihres Denkens manchmal mit ihrem Leben bezahlten. Deshalb erschienen auch d‘Holbachs Bücher „System der Natur“ (1770) und „Der gesunde Menschenverstand oder das religiöse Testament des Pfarrers Meslier aus Étrépigny“ („LE BONS SENS DU CURE MESLIER“) (1772) unter fingierter Autorenschaft (2).
Mit seinen Werken will d’Holbach nach eigener Aussage den Menschen zur Natur zurückführen, ihm Achtung vor der Vernunft und Ehrfurcht vor der Tugend wiedergeben und die Schatten vertreiben, die ihm den einzigen Weg verbergen, der ihn sicher zu jener Glückseligkeit führen kann, die er erstrebt. Er verfolge damit keine andere Absicht als das Glück seiner Mitmenschen. Aus Ehrgeiz will er auch den Beifall „der kleinen Zahl von Parteigängern der Wahrheit“ und von „rechtschaffenen Menschen, die sie aufrichtig suchen“. (3)
Der Mensch ist nur darum unglücklich, weil er die Natur verkennt
Im Vorwort des 1770 erschienenen Schlüsselwerks der militant-bürgerlichen Aufklärung „System der Natur“ schreibt d’Holbach:
„Der Mensch missachtete das Studium der Natur, um Phantomen nachzulaufen, die ihn wie die Irrlichter, die der Wanderer des Nachts erblickt, erschreckten, ihn blendeten und ihn vom einfachen Wege des Wahren abbrachten, ohne den er nicht zum Glück gelangen kann.
Es ist also wichtig, dass man sich bemüht, die Blendwerke zu zerstören, die nur geeignet sind, uns irrezuführen. Es ist an der Zeit, gegen die Übel, welche die Schwärmerei über uns gebracht hat, Heilmittel aus der Natur zu schöpfen: die von der Erfahrung geleitete Vernunft muss endlich die Vorurteile, denen das Menschengeschlecht so lange verfallen ist, an der Wurzel packen. Es ist an der Zeit, dass die ungerechtfertigterweise herabgesetzte Vernunft den kleinmütigen Ton aufgibt, der sie zum Mitschuldigen der Lüge und des Irrsinns macht.
Es gibt nur eine Wahrheit: sie ist für den Menschen notwendig, sie kann ihm niemals schaden, ihre unbesiegbare Macht wird sich früher oder später offenbaren. Daher muss sie dem menschlichen Geschlecht enthüllt werden; ihre Reize müssen ihm gezeigt werden, (…).
Versuchen wir also, die Nebel zu verscheuchen, die den Menschen daran hindern, mit sicherem Schritt auf seinem Lebensweg voranzuschreiten, flößen wir ihm Mut und Achtung vor seiner Vernunft ein; er lerne sein Wesen und seine legitimen Recht erkennen; er frage die Erfahrung um Rat und verzichte auf die Vorurteile seiner Kindheit; er gründe seine Moral auf seine Natur, seine Bedürfnisse, seine wirklichen Vorteile, welche die Gesellschaft ihm gewährt; er wage es, sich selbst zu lieben, er arbeite für sein eigenes Glück, indem er dasjenige der anderen fördert; mit einem Wort: er sei vernünftig und tugendhaft, um hier auf dieser Erde glücklich zu sein, und beschäftige sich nicht mit gefährlichen und unnützen Träumereien!
Wenn er Hirngespinste braucht, so erlaube er wenigstens den anderen, dass sie sich eigene zusammenspinnen, die sich von den seinigen unterscheiden; er überzeuge sich schließlich davon, dass es für die Bewohner dieser Erde sehr wichtig ist, gerecht, wohltätig und friedliebend zu sein, und dass nichts belangloser ist, als über Dinge nachzudenken, die der Vernunft unzugänglich sind.“ (4)
Den Menschen die Wahrheit zeigen
In seinem zwei Jahre später – im Jahr 1772 – erschienenen Buch „Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier“ schreibt d’Holbach bereits in der Einleitung (Orthographie, Interpunktion und Satzstellung wurden unverändert übernommen):
„Es ist vergebene Mühe, die Menschen von ihren Lastern heilen zu wollen, wenn man nicht mit der Heilung ihrer Vorurtheile beginnt. Man muss ihnen die Wahrheit zeigen, damit sie ihre theuersten Interessen kennen lernen, und die wahren Motive, welche sie der Tugend und ihrem wahren Glück zuführen.
Die Volkslehrer haben lange genug ihre Augen zu dem Himmel erhoben; möchten sie endlich sie der Erde zuwenden ! Gebeugt durch die unbegreifliche Theologie, durch lächerliche Fabeln, durch undurchdringliche Mysterien, durch kindliche Ceremonien, möchte der Mensch doch endlich sich mit natürlichen Dingen, mit verständlichen Gegenständen, mit sichtbaren Wahrheiten, mit nützlichen Kenntnissen befassen ! Man beseitige die eitlen Chimären, welche die Menschen in Fesseln halten; und die vernünftigen Gedanken werden gleichsam von selbst in den Köpfen Wurzel fassen, von denen man glaubte, sie seine für ewigen Irrthum bestimmt.
(…)
Um die wahren Prinzipien der Moral zu entdecken, bedarf der Mensch weder der Theologie, noch einer Offenbarung, noch eines Gottes; er bedarf bloss eines gesunden Verstandes; er braucht nur in sich selbst zu blicken, seine eigene Natur zu erforschen, seine Vortheile zu berücksichtigen, den Zweck der Gesellschaft und aller ihrer Mitglieder zu betrachten, und er wird leicht zur Einsicht kommen, dass die Tugend glücklich und das Laster unglücklich macht.
Sagen wir den Menschen, dass sie gerecht sein sollen, wohltätig, mäßig und gesellig, nicht weil es ihre Götter verlangen, sondern weil man seinen Nebenmenschen zu gefallen suchen muss; sagen wir ihnen, dass sie sich der Sünde und des Lasters enthalten sollen, nicht weil man in einer andern Welt gestraft wird, sondern weil sich das Böse schon in diesem Leben bestraft. (…).
Die Wahrheit ist einfach; der Irrthum ist compliziert, unsicher in seinem Gange und von Abwegen umgeben. Die Stimme der Natur ist verständlich; die der Lüge ist zweideutig, räthselhaft, mysteriös. Der Weg der Wahrheit ist gerade, jener des Betruges ist krumm und finster. Diese Wahrheit ist allen Menschen nothwendig, und wird von allen Gerechten gefühlt. Die Lehren der Vernunft sind für alle Jene, die redlichen Gemütes sind. Die Menschen sind unglücklich, weil sie unwissend sind; sie sind unwissend, weil sich alles gegen ihre Aufklärung verschwört, und bloss darum schlecht, weil ihre Denkkräfte nicht hinreichend entwickelt.“ (5)
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Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor a. D.), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Dipl.-Psych.). Viele Jahrzehnte unterrichtete er und bildete Fachkräfte fort. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zum Gemeinsinn und zum Frieden. Sein Lebensmotto (nach Albert Camus): Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.
Noten
(1) d’Holbach, P.-H.T. (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, S. 11
(2) d‘ Holbach, P.-H. T. (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Kritische Gedanken über die Religion und ihre Auswirkung auf die kulturelle Entwicklung. Vita Nova Verlag. Zürich
(3) d’Holbach, P.-H.T. (1978). System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt. Frankfurt am Main, S. 13
(4) A. a. O., S. 11 ff.
(5) d‘ Holbach, P.-H. T. (1976). Der gesunde Menschenverstand des Pfarrers Meslier. Kritische Gedanken über die Religion und ihre Auswirkung auf die kulturelle Entwicklung. Vita Nova Verlag. Zürich, S. 4 ff.
Featured image: Paul Heinrich Dietrich Baron d’Holbach (Photo by Alexander Roslin, licensed under the Public Domain)