Dem Projekt eines «Neuen Nahen Ostens»: Kreative Zerstörung als revolutionäre Kraft
Ursprünglich im 18. November 2006 veröffentlicht.
Der Begriff «neuer Naher Osten» wurde der Welt im Juni 2006 in Tel Aviv von US-Aussenministerin Condoleezza Rice vorgestellt (in den westlichen Medien hiess es, sie hätte den Begriff geprägt), als Ersatz für den älteren und imponierenderen Begriff «umfassender naher Osten» (Greater Middle East).
Diese Verschiebung in der politischen Phraseologie fiel mit der Eröffnung des Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC-)Ölterminals im östlichen Mittelmeer zusammen. Der Begriff und die Konzeptbildung eines «neuen Nahen Ostens» wurden in der Folge von der US-Aussenministerin und dem israelischen Premierminister auf dem Höhepunkt der anglo-amerikanisch gesponserten Belagerung Libanons lanciert. Premierminister Olmert und Aussenministerin Rice hatten die internationalen Medien informiert, dass ein Projekt für einen «neuen Nahen Osten» von Libanon aus gestartet würde.
Diese Ankündigung war eine Bestätigung einer anglo-amerikanisch-israelischen «militärischen Road map» im Nahen Osten. Dieses Projekt, das sich schon seit mehreren Jahren in der Planung befand, betrifft die Herstellung eines Bogens der Instabilität, des Chaos und der Gewalt, der sich von Libanon, Palästina und Syrien über den Irak, den Persischen Golf und den Iran bis an die Grenzen des von der Nato besetzten Afghanistan erstreckt.
Washington und Tel Aviv haben das Projekt «neuer Naher Osten» in der Erwartung öffentlich vorgestellt, dass Libanon der Ansatzpunkt für eine Neuausrichtung des gesamten Nahen Ostens wäre und damit für eine Freisetzung der Kräfte des «konstruktiven Chaos». Dieses «konstruktive Chaos» — das in der ganzen Region Gewalt und Krieg erzeugt — würde dann so genutzt, dass die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Israel die Karte des Nahen Ostens in Übereinstimmung mit ihren geostrategischen Bedürfnissen und Zielen neu zeichnen können.
Der Libanon-Krieg ? die «Geburtswehen» des «neuen Nahen Ostens»
Aussenministerin Condoleezza Rice sagte während einer Pressekonferenz, «was wir hier sehen [die Zerstörung Libanons und die israelischen Angriffe auf Libanon], ist in gewisser Weise das Entstehen die Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens, und was immer wir [die USA] tun, wir müssen sicher sein, dass wir auf einen neuen Nahen Osten hinarbeiten und nicht zum alten zurückkehren». [1] Aussenministerin Rice wurde sowohl in Libanon als auch international sofort für ihre Stellungnahmen kritisiert, die ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden einer ganzen Nation dokumentieren, die von der israelischen Luftwaffe wahllos bombardiert wurde.
Die anglo-amerikanische militärische «Road map» im Nahen Osten und in Zentralasien
Die Rede von US-Aussenministerin Condoleezza Rice über den «neuen Nahen Osten» hatte den Boden bereitet. Die israelischen Angriffe auf Libanon — die von Washington und London gutgeheissen worden waren — haben die Existenz der geostrategischen Ziele weiter offengelegt und bestätigt. Laut Prof. Mark Levine würden «die neoliberalen Globalisierer, die Neokonservativen und letztlich die Bush-Administration sich an den Begriff der kreativen Zerstörung klammern, weil er am besten den Prozess beschreibt, mit dem sie ihre neue Weltordnung herzustellen hoffen». Levine zitiert auch den neokonservativen Philosophen und Bush-Berater Michael Ledeen mit den Worten: «Für die Anhänger der kreativen Zerstörung sind die USA ?eine grossartige revolutionäre Kraft?, deren Wesen die kreative Zerstörung ist.» [2]
Der anglo-amerikanisch besetzte Irak, besonders das irakische Kurdistan, scheint das Versuchsfeld für die Balkanisierung (Teilung) und Finnlandisierung (Befriedung) des Nahen Ostens zu sein. Der gesetzgeberische Rahmen für eine Teilung des Irak in drei Teile wird schon durch das irakische Parlament unter dem Deckmantel der Föderalisierung des Irak ausgearbeitet.
Darüber hinaus scheint die anglo-amerikanische «Road map» den Zugang zu Zentralasien über den Nahen Osten zu suchen. Der Nahe Osten, Afghanistan und Pakistan sind Zwischenschritte für eine Ausdehnung des US-Einflusses in die ehemalige Sowjetunion und die ehemaligen zentralasiatischen Republiken hinein. In gewisser Weise ist der Nahe Osten der südliche Gürtel Zentralasiens. Zentralasien wiederum wird auch als «Russlands südlicher Gürtel» oder als das «nahe Ausland» Russlands bezeichnet.
Viele russische und zentralasiatische Wissenschafter, Militärplaner, Strategen, Sicherheitsberater, Ökonomen und Politiker betrachten Zentralasien («Russlands südlichen Gürtel») als verletzlich und als verwundbare Stelle der russischen Föderation. [3]
Es sollte darauf hingewiesen werden, dass Zbigniew Brzezinski, ein früherer Sicherheitsberater, in seinem Buch The Grand Chessboard: American Primary and Its Geostrategic Imperatives [deutsch erschienen unter: «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft»], den modernen Nahen Osten als den Schalthebel für eine Region bezeichnet, die er, Brzezinski, als eurasischen Balkan bezeichnet. Der eurasische Balkan besteht aus dem Kaukasus (Georgien, der Republik Aserbeidschan und Armenien) und Zentralasien (Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Turkmenistan, Afghanistan und Tadschikistan) und in gewisser Weise auch aus dem Iran und der Türkei. Der Iran und die Türkei bilden zusammen den nördlichsten Gürtel des Nahen Ostens (ausgenommen den Kaukasus), der nach Europa und in die ehemalige Sowjetunion ausstrahlt. [4]
Die Karte des «neuen Nahen Ostens»
Eine relativ unbekannte Karte des Nahen Ostens, des Nato-besetzten Afghanistans und Pakistans zirkuliert seit Mitte 2006 in Strategie-, Regierungs-, Nato- und Militärkreisen. Ein paarmal wurde es ihr gestattet, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, vielleicht in einem Versuch, einen Konsens zu erzeugen und die Öffentlichkeit langsam auf mögliche, vielleicht sogar umwälzende Veränderungen im Nahen Osten vorzubereiten. Es handelt sich um eine Karte eines neugezeichneten und umstrukturierten Nahen Ostens, der als «neuer Naher Osten» bezeichnet wird.
Die Karte des «neuer Naher Osten» wurde von Oberstleutnant Ralph Peters angefertigt.
Sie wurde im Juni 2006 im Armed Forces Journal veröffentlicht. Peters ist pensionierter Offizier der US National War Academy.
Obwohl die Karte nicht offiziell die Doktrin des Pentagon wiedergibt, wurde sie in einem Trainingsprogramm im Defense College der Nato für ranghohe Offiziere verwendet. Diese Karte, wie auch andere ähnliche Karten, ist höchstwahrscheinlich an der National War Academy und in anderen militärischen Planungszirkeln benutzt worden.
Diese Karte eines «neuen Nahen Ostens» scheint von mehreren anderen Karten abgeleitet zu sein, darunter älteren Karten von möglichen Grenzen im Nahen Osten, die bis auf die Ära von US-Präsident Woodrow Wilson und den Ersten Weltkrieg zurückgehen. Diese Karte wird als Idee des pensionierten Oberstleutnants der US-Armee Ralph Peters präsentiert, der glaubt, dass die neuentworfenen Grenzen die Probleme des gegenwärtigen Nahen Ostens fundamental lösen werden.
Die Karte eines «neuen Nahen Ostens» war ein Schlüsselelement in Peters Buch Never Quit the Fight (Gib den Kampf nie auf), das am 10. Juli 2006 veröffentlicht wurde. Die Karte des neugezeichneten Nahen Ostens wurde auch unter dem Titel «Blutgrenzen: wie ein besserer Naher Osten aussähe» im Armed Forces Journal mit einem Kommentar von Ralph Peters veröffentlicht. [5]
Man muss beachten, dass Oberstleutnant Ralph Peters zuletzt den Posten eines stellvertretenden Stabschefs für Geheimdienstfragen im US-Verteidigungsministerium innehatte, einer der führenden Autoren des Pentagon war und für Militärzeitschriften zahllose Aufsätze über Strategie und US-Aussenpolitik geschrieben hat.
Man konnte lesen, dass Ralph Peters «vier frühere Bücher über Strategie in Regierungs- und Militärkreisen grossen Einfluss ausgeübt haben», aber man könnte auch versucht sein zu fragen, ob nicht eigentlich genau das Umgekehrte stattgefunden hat. Könnte es nicht sein, dass Oberstleutnant Peters nur enthüllt und öffentlich macht, was Washington und seine strategischen Planer für den Nahen Osten geplant haben?
Das Konzept eines neugezeichneten Nahen Ostens ist als ein «humanitäres» und «gerechtes» Arrangement präsentiert worden, das den Menschen und Völkern des Nahen Ostens und der umliegenden Regionen zugute käme. Ralph Peters schreibt:
Internationale Grenzen sind niemals völlig gerecht. Aber der Grad an Ungerechtigkeit, die sie denen zufügen, die durch Grenzen getrennt oder zum Zusammenleben gezwungen sind, ist ein grosser Unterschied ? zwischen Freiheit und Unterdrückung, Toleranz und Greuel, dem Gesetz und dem Terrorismus oder gar zwischen Frieden und Krieg.
Die willkürlichsten und verzerrtesten Grenzen auf der Welt gibt es in Afrika und im Nahen Osten. Gezogen von Europäern im eigenen Interesse (die genügend Probleme hatten, ihre eigenen Grenzen festzulegen), führen die Grenzen Afrikas weiterhin zum Tod von Millionen von lokalen Einwohnern. Aber die ungerechten Grenzen im Nahen Osten — in Anlehnung an Churchill — produzieren mehr Probleme, als die Region selbst verkraften kann.Obwohl der Nahe Osten viel mehr Probleme als nur nicht funktionierende Grenzen hat — von kultureller Stagnation über skandalöse Ungleichheit bis hin zu tödlichem religiösem Extremismus — ist das grösste Tabu bei allen Versuchen, das umfassende Versagen der Region zu verstehen, nicht der Islam, sondern die schrecklichen, aber unantastbaren internationalen Grenzen, denen von unseren eigenen Diplomaten gehuldigt wird.
Natürlich könnte keine Anpassung der Grenzen, wie drakonisch auch immer, jede Minderheit im Nahen Osten glücklich machen. In einigen Fällen leben ethnische und religiöse Gruppen vermischt, und Mischehen werden geschlossen. In anderen Fällen werden Wiedervereinigungen auf der Basis von Blut oder Glaube nicht so freudig vonstatten gehen, wie ihre gegenwärtigen Befürworter glauben. Die Grenzen, wie sie in den Karten zu diesem Artikel projektiert werden, entschädigen für die Leiden, die den wichtigsten «betrogenen» Bevölkerungsgruppen zugefügt wurden, nämlich den Kurden, den Belutschen [Sunniten im Südosten Irans und im Südwesten Pakistans, d. Ü.] und den arabischen Schiiten, aber es gelingt ihnen nicht, den nahöstlichen Christen, den Baha’i, den Ismailiten, den Naqschbandi und vielen anderen zahlenmässig kleinen Minderheiten gerecht zu werden. Und ausserdem kann ein unvergessenes Unrecht niemals durch ein Zugeständnis an Territorium entschädigt werden: der Genozid an den Armeniern durch das sterbende Ottomanische Reich.
Dennoch, trotz all der Ungerechtigkeiten, die die hier imaginierten Grenzen unberücksichtigt lassen: Ohne solche grösseren Grenzrevisionen werden wir nie einen friedlicheren Nahen Osten erleben.
Selbst die, denen das Ansinnen, Grenzen zu verändern, fremd ist, wären gut beraten, an einer Übung teilzunehmen, die eine fairere, wenn auch nicht perfekte, neue Grenzziehung zwischen dem Bosporus und dem Indus in Angriff nimmt. Auch wenn man akzeptiert, dass die internationale Staatskunst niemals effektive Werkzeuge — ausser dem Krieg — entwickelt hat, fehlerhafte Grenzen zu justieren, wird uns die geistige Übung, die ?organischen? Grenzen des Nahen Ostens zu erfassen, trotzdem helfen, das Ausmass der Schwierigkeiten, denen wir jetzt und in Zukunft gegenüberstehen, zu verstehen. Wir haben mit kolossalen, von Menschen gemachten Deformierungen zu tun, die solange nicht aufhören werden, Hass und Gewalt zu erzeugen, bis sie korrigiert werden.» [6]
[Hervorhebungen im Zitat von Peters durch Mahdi Darius Nazemroaya]
«Notwendige Schmerzen»: falsch, irreführend und fiktiv
Abgesehen von seinem Glauben an eine «kulturelle Stagnation» im Nahen Osten muss man darauf hinweisen, dass Ralph Peters zugibt, dass seine Vorschläge von «drakonischer» Natur sind. Trotzdem besteht er darauf, dass es für die Menschen im Nahen Osten notwendige Schmerzen seien. Diese Betrachtungsweise von notwendigen Schmerzen und Leiden stellt eine verblüffende Parallele dar zum Glauben der US-Aussenministerin Condoleezza Rice, dass die Verwüstung Libanons durch das israelische Militär einen notwendigen Schmerz oder die «Geburtswehen» darstelle, die den «neuen Nahen Osten» erzeuge, den sich Washington, London und Tel Aviv vorstellen.
Darüber hinaus ist es bedeutsam festzuhalten, dass das Thema des armenischen Genozids in Europa politisiert und angeheizt wird, um die Türkei zu verletzen. [7]
Diese Generalüberholung, Demontage und Neuzusammensetzung der Nationalstaaten im Nahen Osten wird als eine Lösung für die Feindseligkeiten im Nahen Osten verkauft, aber das ist kategorisch irreführend, falsch und fiktiv. Die Befürworter eines «neuen Nahen Ostens» und neugezeichneter Grenzen in der Region vermeiden es und scheitern daran, die Wurzeln der Probleme und Konflikte im gegenwärtigen Nahen Osten offen darzustellen. Was die Medien nicht zur Kenntnis nehmen, ist die Tatsache, dass fast alle grösseren Konflikte, die den Nahen Osten plagen, eine Folge der sich überlappenden anglo-amerikanisch-israelischen Agenden sind.
Viele der Probleme, die den gegenwärtigen Nahen Osten betreffen, sind das Ergebnis der gezielten Verschärfung von existierenden regionalen Spannungen. Religiöse Spaltungen, ethnische Spannungen und interne Gewalt sind traditionell von den USA und Grossbritannien in vielen Teilen der Welt, etwa in Afrika, Lateinamerika, dem Balkan und dem Nahen Osten, ausgenutzt worden. Der Irak ist nur eines von vielen Beispielen für die anglo-amerikanische Strategie des «Teile und herrsche!». Andere Beispiele sind Ruanda, Jugoslawien, der Kaukasus und Afghanistan.
Eines der Probleme im gegenwärtigen Nahen Osten ist ein Mangel an echter Demokratie, die tatsächlich von der Aussenpolitik der USA und Grossbritanniens absichtlich hintertrieben wurde. «Demokratie» im westlichen Stil wurde immer nur von jenen nahöstlichen Staaten gefordert, die sich Washingtons politischen Forderungen nicht fügten. Immer war die Forderung nach Demokratie nur ein Vorwand für Konfrontation. Saudiarabien, Ägypten und Jordanien sind Beispiele für nicht demokratische Staaten, mit denen die USA gut zurechtkommen, weil sie fest in die anglo-amerikanische Einflussspähre eingebunden sind.
Zusätzlich haben die USA echte demokratische Bewegungen im Nahen Osten absichtlich blockiert oder verdrängt. Von Iran 1953 (wo ein von den USA und Grossbritannien unterstützter Coup gegen die demokratische Regierung von Premierminister Mossadegh inszeniert wurde) bis zu Saudiarabien, Ägypten, der Türkei, den arabischen Scheichtümern und in Jordanien. In allen diesen Ländern hat die anglo-amerikanische Allianz Militärdiktaturen, absolute Monarchien und Diktatoren auf die eine oder andere Weise unterstützt. Das neueste Beispiel ist Palästina.
Die türkischen Proteste an der Nato-Militärhochschule in Rom
Oberstleutnant Ralph Peters Karte des «neuen Nahen Osten» löste in der Türkei erboste Reaktionen aus. Gemäss türkischen Pressemitteilungen vom 15. September wurde die Karte des «neuen Nahen Ostens» an der Nato-Militärhochschule in Rom gezeigt. Den Berichten zufolge zeigten sich türkische Offiziere sofort empört über die Darstellung einer aufgeteilten und gespaltenen Türkei. [8] Bevor die Karte in Rom vor den Nato-Offizieren enthüllt wurde, wurde sie von der US National War Academy [Nationale Kriegsakademie der USA] in irgendeiner Form genehmigt.
Der türkische Generalstabschef, General Buyukanit, protestierte gegenüber dem Vorsitzenden des Vereinten Generalstabs der USA, General Peter Pace, gegen die Veranstaltung und gegen die Präsentation der neugezeichneten Karte des Nahen Ostens, Afghanistans und Pakistans. [9] Zudem hat das Pentagon keine Mühen gescheut, der Türkei zu versichern, dass die Karte nicht die offizielle amerikanische Politik oder die Zielvorstellungen in der Region widerspiegelt, was aber zu den anglo-amerikanischen Einsätzen im Nahen Osten und im Nato-besetzten Afghanistan in Widerspruch zu stehen scheint.
Gibt es eine Verbindung zwischen dem «eurasischen Balkan» Brzezinskis und dem Projekt eines «neuen Nahen Ostens»?
Die folgenden Zitate sind wichtige Auszüge aus dem Buch «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft» des ehemaligen amerikanischen Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski. Brzezinski schreibt, dass die Türkei und der Iran, die beiden mächtigsten Staaten am südlichen Ende des «eurasischen Balkans», «besonders anfällig auf innere ethnische Konflikte (Balkanisierung)» sind und dass «wenn eines oder beide Länder destabilisiert werden sollten, würden die inneren Probleme der Region unbeherrschbar werden». [10]
Es scheint, dass ein geteilter und balkanisierter Irak die beste Methode wäre, um dies zu erreichen. Wenn man das, was aus den Zugeständnissen des Weissen Hauses bekannt ist, glaubt, herrscht dort die Ansicht, dass «kreative Zerstörung und Chaos» im Nahen Osten vorteilhafte Aktivposten seien, um den Nahen Osten umgestalten zu können, um einen «neuen Nahen Osten» zu schaffen und den anglo-amerikanischen Fahrplan für den Nahen Osten und Zentralasien zu fördern:
Das Wort Balkan beschwört in Europa Bilder von ethnischen Konflikten und Stellvertreterkriegen der Grossmächte herauf. Auch Eurasien hat seinen Balkan, aber der ist viel grösser, dichter bevölkert und religiös und ethnisch noch heterogener. Der eurasische Balkan liegt innerhalb jenes grossen Rechtcks, das […] Teile von Südosteuropa, Zentralasien sowie einige Gebiete Südasiens, die Region um den Persischen Golf und den Nahen Osten umfasst.
Der eurasische Balkan bildet den inneren Kern dieses grossen Rechtecks und unterscheidet sich von seinem äusseren Umfeld durch ein besonderes Merkmal: Er ist ein Machtvakuum. Zwar sind auch die meisten Staaten in der Golfregion und im Nahen Osten alles andere als stabil, doch üben im Endeffekt die USA dort eine Schiedsrichterfunktion aus. Die instabile Region steht mithin unter der Hegemonie einer einzigen Macht, die einen mässigenden Einfluss ausübt. Im Gegensatz dazu erinnert der eurasische Balkan wirklich an den uns aus der Geschichte dieses Jahrhunderts vertrauteren Balkan in Südosteuropa: Die dortigen Staaten sind nicht nur hochgradig instabil, ihre Lage und innenpolitische Verfassung fordern die mächtigen Nachbarn zum Eingreifen geradezu heraus, und jeder widersetzt sich mit Entschlossenheit den Bestrebungen der anderen, die Vorherrschaft in der Region zu erlangen. Es ist dieses wohlvertraute Phänomen des Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung, das die Bezeichnung eurasischer Balkan rechtfertigt.
Im Kampf um die Vormacht in Europa winkte der traditionelle Balkan als geopolitische Beute. Geopolitisch interessant ist auch der eurasische Balkan, den die künftigen Transportwege, die zwischen den reichsten und produktivsten westlichen und östlichen Randzonen Eurasiens bessere Verbindungen herstellen sollen, durchziehen werden. Ausserdem kommt ihm sicherheitspolitische Bedeutung zu, weil mindestens drei seiner unmittelbaren und mächtigsten Nachbarn von alters her Absichten darauf hegen und auch China ein immer grösseres politisches Interesse an der Region zu erkennen gibt. Viel wichtiger aber ist der eurasische Balkan, weil er sich zu einem ökonomischen Filetstück entwickeln könnte, konzentrieren sich in dieser Region doch ungeheure Erdgas- und Erdölvorkommen, von wichtigen Mineralien, einschliesslich Gold, ganz zu schweigen.
Der weltweite Energieverbrauch wird sich in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten enorm erhöhen. Schätzungen des US-Department of Energy zufolge steigt die globale Nachfrage zwischen 1993 und 2015 um voraussichtlich mehr als 50 Prozent, und dabei dürfte der Ferne Osten die bedeutendste Zunahme verzeichnen. Schon jetzt ruft der wirtschaftliche Aufschwung in Asien einen massiven Ansturm auf die Erforschung und Ausbeutung neuer Energievorkommen hervor, und es ist bekannt, dass die zentralasiatische Region und das Kaspische Becken über Erdgas- und Erdölvorräte verfügen, die jene Kuwaits, des Golfs von Mexiko oder der Nordsee in den Schatten stellen.
Zugang zu diesen Ressourcen zu erhalten und an ihrem Reichtum teilzuhaben sind Ziele, die nationale Ambitionen wecken, Gruppeninteressen anregen, historische Ansprüche wieder ins Bewusstsein rücken, imperiale Bestrebungen aufleben lassen und internationale Rivalitäten anfachen. Noch brisanter wird die Situation dadurch, dass die Region nicht nur ein Machtvakuum darstellt, sondern auch intern instabil ist.[…]
Der eurasische Balkan besteht aus neun Ländern, auf die die obige Beschreibung mehr oder weniger zutrifft, und vielleicht kommen bald zwei weitere Staaten hinzu. Die neun Länder sind Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Armenien und Georgien — alle gehörten einst zur früheren Sowjetunion — sowie Afghanistan.
Die beiden Länder, die man hinzuzählen könnte, nämlich die Türkei und der Iran, sind politisch und wirtschaftlich wesentlich lebensfähiger; beide bemühen sich aktiv um regionalen Einfluss innerhalb des eurasischen Balkans und stellen somit wichtige geostrategische Akteure in der Region dar. Zugleich sind beide für ethnische Konflikte anfällig. Käme es zur Destabilisierung eines dieser Staaten oder auch beider, wären die internen Probleme der Region nicht mehr zu steuern, und selbst eine regionale Vorherrschaft der Russen könnte dann womöglich nicht mehr verhindert werden. [11]
[Hervorhebungen durch Mahdi Darius Nazemroaya]
Die Brzezinski Karte des «eurasischen Balkan.»
The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, 1998.
Der Neuentwurf des Nahen Ostens
Der Nahe Osten hat in gewisser Hinsicht auffallende Parallelen mit dem Balkan und Zentralosteuropa während der Jahre, die zum Ersten Weltkrieg führten. In der Folge des Ersten Weltkrieges wurden die Grenzen im Balkan und Zentralosteuropa neu gezogen. Diese Region machte vor und nach dem Ersten Weltkrieg eine Periode des Umsturzes, der Gewalt und der Konflikte durch, die direktes Ergebnis ausländischer Wirtschaftsinteressen und Einmischung war.
Die Hintergründe des Ersten Weltkrieges sind düsterer als die Standarderklärung in den Schulbüchern, die Ermordung des Thronfolgers des Österreich-Ungarischen (Habsburgischen) Reiches, Erzherzogs Franz Ferdinand, in Sarajevo. Wirtschaftliche Faktoren waren die wirklichen Beweggründe für den grossangelegten Krieg von 1914.
Norman Dodd, ein ehemaliger Wallstreet-Bankier und Ermittlungsbeamter des US-Kongresses, der steuerbefreite Stiftungen prüfte, bestätigte in einem Interview aus dem Jahre 1982, dass diejenigen mächtigen Individuen, die aus dem Hintergrund die Finanzen, die Politik und die Regierung der Vereinigten Staaten kontrollierten, in Wirklichkeit auch die Beteiligung der USA an einem Krieg geplant hatten, welcher dazu beitragen würde, ihren Griff nach der Macht zu verankern.
Das folgende Zeugnis stammt aus einer Abschrift von Norman Dodds Interview mit G. Edward Griffin:
Wir sind nun im Jahre 1908, dem Jahr, als die Carnegie-Stiftung die Tätigkeit begann. Und in diesem Jahr warf die Tagung der Treuhänder (trustees meeting) eine bestimmte Frage auf, die sie für den Rest des Jahres in einer sehr fachkundigen Art diskutierten. Und die Frage ist: Gibt es ein bekanntes Mittel, das effektiver ist als Krieg, angenommen, man möchte das Leben eines gesamten Volkes verändern? Und sie kommen zum Schluss, dass die Menschheit für dieses Ziel kein effektiveres Mittel als den Krieg kennt. Und so werfen sie dann, im Jahre 1909, die zweite Frage auf und diskutieren sie: Wie ziehen wir die USA in einen Krieg?
Nun, ich bezweifle, dass es zu jener Zeit irgendein Thema gab, das dem Denken der Menschen dieses Landes (der Vereinigten Staaten) ferner lag, als seine Beteiligung an einem Krieg. Es gab zwischenzeitlich Shows (Kriege) auf dem Balkan, aber ich bezweifle sehr, dass viele Menschen überhaupt wussten, wo der Balkan war. Und schliesslich beantworteten sie die Frage wie folgt: Wir müssen das Aussenministerium unter Kontrolle bringen.
Und dann kommt ganz selbstverständlich die Frage auf, wie wir das tun. Die Antwort ist, indem sie sagen, wir müssen die diplomatische Maschinerie dieses Landes übernehmen und kontrollieren, und schliesslich beschliessen sie, dies als ein Ziel anzustreben. Dann vergeht die Zeit, und wir sind schliesslich in einem Krieg, der der Erste Weltkrieg sein wird. Zu jener Zeit halten sie in ihren Sitzungsprotokollen einen schockierenden Bericht fest, in welchem sie Präsident Wilson ein Telegramm senden und ihn ermahnen, dafür zu sorgen [cautioning him to see], dass der Krieg nicht zu schnell endet. Und schliesslich ist der Krieg natürlich vorbei.
Zu diesem Zeitpunkt verlagern sich ihre Interessen dahingehend, das zu verhindern, was sie eine Rückkehr zu dem Leben in den Vereinigten Staaten, wie es vor 1914 war, als der Erste Weltkrieg ausbrach, nennen.
[Hervorhebungen durch Mahdi Darius Nazemroaya]
Planmässige verdeckte Geheimdienstagenda
Feindseligkeiten zwischen ethnischen und religiösen Gruppen Der Neuentwurf und die Teilung des Nahen Ostens von den östlichen Mittelmeerküsten Libanons und Syriens bis Anatolien (Kleinasien), Arabien, dem Persischen Golf und dem Iranischen Hochland folgt umfassenden wirtschaftlichen, strategischen und militärischen Zielen, die Teil einer jahrelangen anglo-amerikanischen und israelischen Agenda in der Region sind.
Der Nahe Osten wurde durch Kräfte von aussen in ein Pulverfass verwandelt, das jederzeit mit dem richtigen Auslöser explodieren kann, vielleicht durch anglo-amerikanische und/oder israelische Luftangriffe gegen Iran und Syrien. Ein grösserer Krieg im Nahen Osten könnte dazu führen, dass Grenzen neu gezogen werden, die strategisch für die anglo-amerikanischen Interessen und für Israel von Vorteil sind.
Das Nato-besetzte Afghanistan wurde erfolgreich geteilt, ohne dies beim Namen genannt zu haben. Feindseligkeiten wurden in der Levante gesät, wo ein palästinensischer Bürgerkrieg gefördert wird und Spaltungen in Libanon inszeniert werden. Das östliche Mittelmeer wurde erfolgreich durch die Nato militarisiert. Syrien und der Iran werden weiter durch die westlichen Medien dämonisiert, mit der Absicht, eine militärische Agenda zu rechtfertigen. Die westlichen Medien füttern wiederum täglich die nicht richtige und verzerrte Auffassung, dass die Bevölkerungsgruppen im Irak nicht nebeneinander existieren könnten und dass der Konflikt nicht ein Besatzungskrieg, sondern ein «Bürgerkrieg» sei, der durch einen internen Kampf zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden charakterisiert sei.
Versuche, absichtlich Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen ethnokulturellen und religiösen Gruppen des Nahen Ostens zu schaffen, waren systematisch. Tatsächlich sind sie Teil einer sorgfältig geplanten, verdeckten Geheimdienstagenda.
Noch bedenklicher ist, dass viele Regierungen des Nahen Ostens, wie diejenige Saudiarabiens, Washington darin unterstützen, Spaltungen zwischen den Bevölkerungsgruppen des Nahen Ostens anzufachen. Das Endziel ist es, die Widerstandsbewegung gegen die ausländische Besatzung durch eine «Strategie des Teilen und Herrschens» zu schwächen, was anglo-amerikanischen und israelischen Interessen in der weiteren Region dient.
Mahdi Darius Nazemroaya ist ein unabhängiger Schriftsteller aus Ottawa (Kanada), der sich auf den Nahen Osten und Zentralasien spezialisiert hat. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre for Research on Globalization (CRG).
Dieser Artikel erschien unter dem Titel: « Plans for Redrawing the Middle East: The Project for a “New Middle East” » bei Global Research, Centre for Research on Globalization, 17. Januar 2009.
Quelle: Centre for Research on Globalization (CRG) vom 18.11.2006 (Übersetzung Zeit-Fragen).
Anmerkungen
1 Außenministerium der Vereinigten Staaten, «What the Secretary Has Been Saying; Special Briefing on the Travel to the Middle East and Europe of Secretary Condoleezza Rice» (Washington, D.C.), July 21, 2006: <www.state.gov/secretary/rm/2006/69331.htm>.
2 Mark LeVine, «The New Creative Destruction», Asia Times, August 22, 2006.
3 Andrej Kreutz, «The Geopolitics of post-Soviet Russia and the Middle East», Arab Studies Quarterly (ASQ), 26 (1) (January 2002): 49-62.
4 Der Kaukasus oder Kaukasien kann als Teil des Nahen Ostens oder in einem anderen Bereich in Betracht gezogen werden.
5 Ralph Peters, «Blood borders: How a better Middle East Would Look», Armed Forces Journal (AFJ), (June 2006): <http://www.armedforcesjournal.com/2006/06/1833899>.
6 ibid.
7 Crispian Balmer, «French MPs back Armenia genocide bill, Turkey angry, Reuters, October 12, 2006; James McConalogue, «French against Turks: Talking about Armenian Genocide», The Brussels Journal, October 10, 2006.
8 Suleyman Kurt, «Carved-up Map of Turkey at Nato Prompts U.S. Apology, Zaman (Türkei), September 29, 2006.
9 ibid.
10 Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives [deutsch erschienen unter: «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft»], (New York: Basic Books, 1998), 124.
11 ibid, 122-124.